Wie das Gehirn als ein Parasit,
der vom Organismus genährt wird, ohne direkt zu dessen innerer
Oekonomie beizutragen, da oben, in seiner festen, wohlverwahrten
Behausung ein selbständiges, unabhängiges Leben führt;
so führt der geistig hochbegabte Mensch außer dem Allen
gemeinsamen, individuellen Leben, noch ein zweites, rein intellektuelles,
welches in der steten Zunahme, Berichtigung und Vermehrung nicht
des bloßen Wissens, sondern der zusammenhängenden eigentlichen
Erkenntnis und Einsicht besteht und unberührt bleibt vom
Schicksale der Person, sofern es nicht etwan von diesem in seinem
Treiben gestört wird; daher auch es den Menschen über
dasselbe und seinen Wechsel erhebt und hinaussetzt. Es besteht
in einem steten Denken, Lernen, Versuchen und Ueben, und wird
allmählich zur Hauptexistenz, der die persönliche sich
als bloßes Mittel zum Zweck unterordnet. Ein Beispiel der
Unabhängigkeit und Absonderung dieses intellektuellen Lebens
gibt uns Goethe, wann er, mitten im Feldgetümmel des Champagnekrieges,
Phänomene zur Farbenlehre beobachtet und, sobald ihm, unter
dem grenzenlosen Elend jenes Feldzuges, eine kurze Rast, in der
Festung Luxemburg, gegönnt ist, sogleich die Hefte seiner
Farbenlehre vornimmt. So hat er uns denn ein Vorbild hinterlassen,
dem wir sollen nachfolgen, die wir das Salz der Erde sind, indem
wir allezeit unserm intellektuellen Leben ungestört obliegen,
wie immer auch das persönliche vom Sturm der Welt ergriffen
und erschüttert werden möge, stets eingedenk, daß
wir nicht der Magd Söhne sind, sondern der Freien. Als unser
Emblem und Familienwappen schlage ich vor, einen vom Sturm heftig
bewegten Baum, der dabei dennoch seine roten Früchte auf
allen Zweigen zeigt, mit der Umschrift: dum convellor mitescunt;
oder auch: conquassata, sed ferax.
Jenem rein intellektuellen Leben des Einzelnen entspricht ein
eben solches des Ganzen der Menschheit, deren reales Leben ja
ebenfalls im Willen liegt, sowohl seiner empirischen, als seiner
transcendenten Bedeutung nach. Dieses rein intellektuelle Leben
der Menschheit besteht in ihrer fortschreitenden Erkenntnis mittelst
der Wissenschaften, und in der Vervollkommnung der Künste,
welche beide, Menschenalter und Jahrhunderte hindurch, sich langsam
fortsetzen, und zu denen ihren Beitrag liefernd, die einzelnen
Geschlechter vorübereilen. Dieses intellektuelle Leben schwebt,
wie eine ätherische Zugabe, ein sich aus der Gärung
entwickelnder wohlriechender Duft über dem weltlichen Treiben,
dem eigentlich realen, vom Willen geführten Leben der Völker,
und neben der Weltgeschichte geht schuldlos und nicht blutbefleckt
die Geschichte der Philosophie, der Wissenschaft und der Künste
*).
*) Was eine Nation an Werken der schönen Künste, Poesie
und Philosophie aufzuweisen hat, ist der Ertrag des in ihr vorhanden
gewesenen Ueberschusses an Intellekt.
Arthur Schopenhauer 1788 1860
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